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Buchtipp 

von Sabine Schweitzer  
 

Julia Dibbern
Unter Wasser ist es still 
Limes € 22,00

 

Ein Tag vor beinahe achtzehn Jahren hat das Leben der Mittdreißigerin Maira komplett verändert. Es war der letzte Tag, bevor sie ihre geliebte Heimat auf dem Darß verlassen musste. Nun lebt sie in Frankfurt, arbeitet als Möbelrestauratorin und versucht, die Erinnerungen an damals zu verdrängen. Aber nun benötigt sie Geld, um die Firma ihres Chefs zu übernehmen und muß das Haus ihrer Kindheit, das sie seit damals nie mehr betreten hat, verkaufen. Ein Interessent ist schnell gefunden, also macht sich Maira auf den Weg nach Norden an die See, um das Haus auszuräumen. In ihrem Heimatdorf begegnet sie dann ihren beiden Kindheitsfreunden Jasper und Anne, die immer noch dort wohnen und inzwischen, anders als sie selbst, Familien haben. Diesen beiden muß sie sich stellen und dem Haus und allen Erinnerungen, die damit verbunden sind. Denen an ihre an Frühdemenz erkrankte Mutter, denen an die Wale und an das Meer, an ihre Verbundenheit mit der Natur, an eine glückliche Kindheit und eine schwierige Jugendzeit zwischen Pflege und Schule. Und sie muß sich fragen, ob sie nicht doch noch an dem Haus, das in der Geschichte fast zu einer eigenständigen Figur wird, und ihrer Heimat hängt. Zudem will sie herausfinden, was an dem folgenschweren Tag wirklich passiert ist.

Dieses Buch hat mich absolut begeistert und ich möchte es allen Fans von Dörte Hansens Romanen ans Herz legen. Toll geschrieben, wunderbare Naturschilderungen, glaubwürdige Figuren, eine Geschichte zum im wahrsten Sinne des Wortes „Abtauchen“. 

 

 

Buchtipp 

von Sabine Schweitzer  
 

Kantika
Elizabeth Graver 
Mare € 25,00

 

Die Großmutter der Autorin, Rebecca Cohen, wächst Anfang des vorigen Jahrhunderts in einer sephardischen Unternehmerfamilie im damaligen Konstantinopel auf. Sie wohnen in einem großen Haus, Rebecca besucht eine deutsche Schule und trifft sich fast täglich mit ihrer besten Freundin Lika. Aber als sich die Stimmung Anfang der 1920er Jahre zu verdunkeln beginnt und der Vater einen Krieg in Europa befürchtet, siedelt die Familie nach Barcelona über. Dort gibt es für den Vater lediglich eine Stelle als Hausmeister der jüdischen Gemeinde und Rebecca muß mit ihrer Schneiderei zum Lebensunterhalt beitragen. Sie heiratet einen unbrauchbaren Ehemann, bekommt zwei Kinder und schlägt sich irgendwie durch. Aber die Zeiten werden nicht besser und als ihr Mann stirbt, beschließt sie, zu ihrer Schwester nach Amerika auszuwandern. Ihre Eltern und Kinder muß sie zunächst zurück lassen. In New York heiratet sie schließlich den Mann ihrer verstorbenen Freundin Lika, den sie nur aus Briefen kennt und der eine an Zerebralparese erkrankte Tochter hat. Endlich kann sie auch ihre Söhne nachholen, aber für die alten Eltern ist die Überfahrt zu beschwerlich. Mit ihrem Mann erfährt sie ein kleines Glück, bekommt nochmal drei Kinder und wird fast 90 Jahre alt.

Diese Familiengeschichte über eine überaus starke Frau, die trotz aller Schicksalsschläge nie aufgibt, ist toll erzählt und umspannt Kulturen und Kontinente

 

 

 

Buchtipp 

von Christina Niethammer    

Alina Herbing
Tiere, vor denen man Angst haben muss 
Arche € 23,00

Die Ich-Erzählerin Madeleine zieht mit ihrer Familie kurz nach der Wende von Lübeck in den Norden Mecklenburgs auf einen alten, heruntergekommenen Hof. Hier kann die Mutter endlich ihren Traum vom Aussteigen verwirklichen und ein antikapitalistisches Leben führen. Sie baut eine Auffangstation für Haus- und Wildtiere auf, ein Ehrenamt ohne Verdienst und mit der Devise „Die Tiere gehen immer vor“. Während die Tiere nach und nach Haus und Hof einnehmen, verlässt der Vater die Familie und dann gehen die Brüder. Zurück bleiben die Teenie-Schwestern Madeleine und Ronja, die sich in bewundernswerter Weise Halt geben. Gemeinsam trotzen sie der zunehmenden Kälte, die sie von allen Seiten umgibt. Die Kälte durch die unbeheizten Zimmer, die eingefrorenen Wasserrohre und vor allem durch die fehlende Zuwendung der Mutter. Doch die beiden schaffen es immer wieder, sich Wärme zu spenden, und manchmal hilft ihnen die Flucht in ihre Träume und die Welt des Quelle-Katalogs.

Mich hat der Roman tief beeindruckt. Alina Herbing geht der Frage nach, wie es kommen kann, dass eine Mutter Tiere besser behandelt als ihre eigenen Kinder. Außerdem erzählt sie in ausdrucksstarken Bildern: das Modern des Hauses, das Wuchern der Efeupflanzen, die Kratzspuren der Hunde an den Fensterrahmen – all das hat man beim Lesen vor Augen, und die Kälte, die sich durch den Roman zieht, erreicht einen persönlich.

 

 

Buchtipp 

von Christina Niethammer    

Rebecca F. Kuang
Yellowface
Eichborn € 24,00

Die jungen Autorinnen June und Athena kennen sich bereits, seit sie in Yale studiert haben. Beide sind ehrgeizig und arbeiten hart für ihren Traum, erfolgreiche Schriftstellerinnen zu werden. Während Athenas Debütroman große Aufmerksamkeit erhält und vor allem in den sozialen Medien gefeiert wird, floppt Junes Erstlingswerk. June fühlt sich von vielen Seiten ungerecht behandelt. Im Moment scheint sich keiner für eine weiße Autorin zu interessieren, Athenas amerikanisch-asiatische Abstammung liegt einfach im Trend und sie passt perfekt in die Werbekampagne der Verlagswelt. Als ein tragischer Unfall passiert, handelt June, ohne zu zögern: Sie nimmt Athenas unvollendetes Manuskript an sich, überarbeitet es und gibt es als ihr eigenes aus. „Die letzte Front", ein Roman über chinesische Arbeiter im Ersten Weltkrieg, wird ein Hit und June unter ihrem neuen Künstlernamen Juniper Song zum Star. Doch schon bald entstehen Risse in der schönen neuen Fassade, die June erschaffen hat, und sie erhält merkwürdige Nachrichten.

Rebecca F. Kuang hat einen äußerst raffinierten und genialen Roman geschrieben. Vielleicht sogar einen literarischen Thriller, denn nichts ist, wie es scheint, und die Frage nach der Wahrheit ist kompliziert, vor allem, weil wir die Geschichte aus Junes Perspektive erfahren. Nimmt man den Schutzumschlag ab, heißt der Roman auch nicht mehr „Yellowface“, sondern „Die letzte Front“.

 

 

 

Buchtipp 

von Annette Böder    

Katrin de Vries 
Ein Garten offenbart sich 
dtv € 24,00

 

Aus dem Rheiderland in Ostfriesland stammend, zieht die Autorin mit ihrer Familie zurück in ihre Heimat, als die Kinder noch klein sind. Sie kaufen ein großes altes Backsteinhaus mit einem riesigen Grundstück. Ausser ein paar Bäumen und einer verwilderten Rose ist im garten nichts vorhanden. Es werden Beete angelegt, Obstbäume, Beerensträucher und Stauden gepflanzt. 

Vor allem durch die heranwachsenden Söhne bekommt sie im Lauf der Jahre immer wieder Impulse, mehr Wildnis zuzulassen: die Wiese nicht mehr zu mähen, alte Bäume stehen zu lassen, zu mulchen… 

Mit der Zeit erlebt sie eine Schulung ihrer Wahrnehmung und beim Lesen lässt sie uns daran teilhaben. Es werden keine Ratschläge erteilt, Katrin de Kreis schildert ihre Beobachtungen der Tier-und Pflanzenwelt in ihrer unmittelbaren Umgebung und ihre Erfahrungen mit deren Veränderung sehr lebendig und undogmatisch. 

Mir hat die Lektüre sehr viel Freude gemacht, besonders schön fand ich die Passagen, in denen sie über das Leben ihrer Großeltern schreibt, und wie diese Anfang der 60-er Jahre das Land bestellten, welche Bedeutung der Garten hatte, wie konserviert und was gegessen wurde. Diesen Fokus auf früher erweitert sie mit Blick auf das Dorfleben, Rituale im Jahres-und Lebenslauf.

Ein warmherziger und lebenskluger Blick auf das menschliche Dasein.

 

 

Buchtipp 

von Annette Böder    

Gerbrand Bakker
Der Sohn des Friseurs 
Suhrkamp € 25,00

 

Seit Generationen sind die Männer aus Simons Familie Friseure in Amsterdam. Cornelis, seinen Vater hat Simon nicht kennengelernt, kam er doch bei einem Flugzeugabsturz 1977, vor Simons Geburt, ums Leben. 

Simon schätzt sein ruhiges Dasein zwischen dem Salon, in dem er nur sehr wenige Kunden bedient - und am liebsten die Schweigsamen - und seiner Wohnung im Stockwerk darüber, ansonsten geht er manchmal in die Schwimmhalle. Er hat keine Pläne, hat die Schwimmwettkämpfe aufgegeben, lässt die Tage verrinnen. Der Bitte seiner Mutter, sie bei der Beaufsichtigung behinderter Jugendlicher in der Schwimmhalle zu unterstützen, kommt Simon nur widerwillig nach. In der Gruppe ist auch Igor, eine schöner behinderter Junge, der Simon gefällt.

Gleichzeitig beginnt er sich jetzt, mit Mitte vierzig für das Flugzeugunglück zu interessieren und verbringt viel Zeit mit der Recherche im Netz. Von seinem Großvater Jan erfährt er, dass seinerzeit auch der Praktikant im Friseursalon „Chez Jean“ zu den Opfern des Unglücks gehörte. Warum hat Cornelis seine schwangere Frau verlassen, war auch er schwul?                        Ist Simons Vater gar nicht ums Leben gekommen, sondern lebt seit dem Absturz als Friseur auf Teneriffa?

Ein Stammkunde im Salon ist der Schriftsteller, mit dem sich Bakker selbst in den Roman einbringt. Dieser möchte sein nächstes Buch von einem Frisör handeln lassen, vielleicht um dem unzugänglichen Simon näher zu kommen?

Ein literarisches Verwirrspiel, dem man gerne auf den Grund gehen möchte, mit der typischen bakkerschen Larmoyanz und Melancholie erzählt.

Also endlich wieder ein echter Bakker!

 

 

Buchtipp 

von Annette Böder    

Alex Capus
Das kleine Haus am Sonnenhang 
Hanser € 22,00

 

In seinem soeben erschienenen Buch gewährt uns der Schweizer Autor einen Blick in sein Leben als angehender Schriftsteller.

Im kleinen Haus am Sonnenhang im Piemont arbeitet er an seinem ersten Roman, während seine Freundin ihre juristischen Fachbücher wälzt, werkelt am Haus, an allen Tagen, an denen ihm nichts zu schreiben einfällt, empfängt Freunde in den Sommerwochen und bleibt nach deren Abreise bis lange in den Herbst. In Abgeschiedenheit - es sind die 90-er, kein Handy, kein Auto, die nächste Bar ist weit entfernt, lässt sich vortrefflich schreiben, lesen und philosophieren.

 Er verrät uns eine Menge über persönliche Vorlieben, sei es Pizza Fiorentina oder seine Hausheiligen, die von ihm verehrten Autoren. Er denkt über seine Herkunft nach und darüber, was von unserem Leben und Wirken in 50 Jahren noch sichtbar sein wird. Mit etwas Wehmut erinnert er an eine Epoche, in der man an Tankstellen noch bedient und überall gequalmt wurde wie verrückt. 

Der Wahrheitsgehalt des Textes ist nicht von Belang, so charmant, wie er daherkommt - die Sache mit dem Siebenschläfer und dem Kachelofen zum Beispiel, hat sie sich so zugetragen oder verfolgt der Autor einfach eine Fährte bis zum Schluss, wie er seine Art des Erzählers beschreibt? 

Als Leserin bin ich den Fährten Capus’ gerne gefolgt.                           

Heitere, beglückende Lektüre und ein Lehrstück in Gelassenheit.

 

 

 

Buchtipp 

von Annette Böder    

Marco Balzano
Wenn ich wiederkomme
Diogenes € 14,00

 

Tausende Frauen aus Osteuropa verlassen ihr Land und ihre Familien, um im reichen Westen als Pflegerinnen oder Kinderfrauen zu arbeiten.

Daniela aus Rumänien ist eine von ihnen. Ihr Sohn Manuel und seine ältere Schwester Angelica bleiben in der Obhut ihres Vaters, der seine Tage Bier trinkend auf dem Sofa verbringt, und der Großeltern, die nebenan wohnen. Angelica verfolgt zielstrebig ihr Studium, während Manuel, nachdem der Vater verschwunden und der Großvater gestorben ist, jeglichen Halt verliert.

Zunächst schildert der italienische Autor aus Sicht des Jüngsten den Zerfall der Familie bis zum Unfall, nach welchem Manuel im Koma liegt.

Der Mittelteil wird von Daniela geschildert, die in Mailand verschiedene Pflegestellen hat, zuverlässig und liebevoll eine wirklich schwere Arbeit leistet, Geld und Geschenke nach Hause schickt, jedoch unter Einsamkeit, Schuldgefühlen und der Entfremdung von ihren Kindern leidet. Nach Manuels Unfall kehrt sie nach Rumänien zurück und verbringt ihre Tage in der Klinik. Die Ärzte raten ihr, selbst Hilfe zu suchen, denn der Burnout, den diese Form der Migration mit sich bringt, ist allgemein bekannt und wird in Rumänien als „Italiensyndrom“ bezeichnet.

Ganz ohne Hoffnung lässt Marco Balzano seine Geschichte aber nicht enden. Im Schlusskapitel, das von Angelica erzählt wird, deutet sich eine Wiederannäherung zwischen den Geschwistern und ihrer Mutter an.

Balzano legt mit „Wenn ich wiederkomme“ einen engagierten Roman vor zu einem Phänomen, das wir alle kennen, über das aber kaum gesprochen wird. Im Vorfeld hat er Interviews mit ausländischen Pflegekräften in Italien geführt und in Rumänien Einrichtungen für Home-Alone-Children besucht.

Wieder begeistert Balzano mit diesem neuen Buch als einer der derzeit erfolgreichsten italienischen Autoren mit seiner klaren Sprache und einer überzeugenden Dramaturgie.

 

 

 

 

Buchtipp 

von Annette Böder    

Kristine Bilkau
Nebenan
btb € 13,00

 

Wie schon im 2015 erschienenen Debütroman „Die Glücklichen“ gelingt es der Autorin durch ihren Blick unter die Oberfläche, uns am Leben ihrer Protagonistinnen teilnehmen zu lassen mit allem, was sie umtreibt an Sehnsüchten und Ängsten.

Schauplatz ist ein Dorf am Nord-Ostsee-Kanal im Winter. Eine Familie hat über Nacht ihr Haus verlassen, niemand hatte engeren Kontakt; ein irgendwie beunruhigendes Rätsel.

Das leere Haus beschäftigt Julia, die gegenüber ihr neues Zuhause gefunden hat. Die scheue Töpferin will hier endlich ein Kind bekommen und mit ihrem Partner ein achtsames Leben auf dem Land führen. Ihre Sehnsucht nach Zugehörigkeit und einem sicheren Ort ist groß. Doch die ländliche Idylle gibt es nicht: Wohin man schaut, klaffen Risse, zeigt sich Aufgegebenes. In einem leerstehenden Geschäft in der nahen Kleinstadt eröffnet sie ihren Keramikladen, in den eines Tages auch Astrid kommt.

Sie, die pragmatische Allgemeinärztin, Anfang 60, ist der Gegenentwurf zu Julia. Mutter von drei Söhnen, verwurzelt in der Gegend, hat sie schon lange ihren Platz gefunden. Sie sorgt sich um ihre alte Tante und grämt sich über eine in die Brüche gegangene Freundschaft. Als Einzelkämpferin behält sie ihre Sorgen für sich und ist auch einsam – wie Julia.

Voll Gegenwärtigkeit und Klarheit erzählt Bilkau in schwebender Prosa von der Brüchigkeit unserer Leben.

 

 

Buchtipp 

von Sabine Schweitzer  
 

Inger-Maria Mahlke
Unsereins 
Rowohlt € 26,00

 

Schon ihr mit dem Deutschen Buchpreis ausgezeichneter Teneriffa-Roman „Archipel“ hat mich begeistert, aber „Unsereins“, das uns ins Lübeck der Jahrhundertwende mitnimmt, war für mich ein echtes Lese-Highlight.

Die Autorin, die in Lübeck aufgewachsen ist, hat dortige Archive nach Material aus der damaligen Zeit gründlich durchforstet und daraus einen Roman entwickelt, der, anders als Thomas Manns „Buddenbrooks“ auch das Schicksal der sogenannten „kleinen Leute“ beleuchtet.

Im Mittelpunkt des Geschehens steht zwar auch die Familie Lindhorst mit ihren acht Kindern, der Vater Rechtsanwalt und später Senator, die in einer Villa mit 23 Zimmern residiert, aber der Autorin genauso wichtig ist das Dienstmädchen der Familie, Ida Stuermann oder der Ratsdiener Isenhagen. Mahlke hat ein ganzes Arsenal an Personen geschaffen, die wir wechselseitig auf ihrem Weg begleiten und gleichzeitig bekommen wir ein Gespür für die damalige Stimmung, die Politik befindet sich im Umbruch, die Sozialdemokratie ist auf dem Vormarsch, die Arbeiterschaft gewinnt an Einfluß, das Großbürgertum ist auf dem absteigenden Ast, die Gesellschaft befindet sich im Wandel.

Mit sehr viel Sympathie für ihre Figuren, mit Witz und zum Teil auch Tragik erzählt uns die Autorin vom (fast) kleinsten Staate des Kaiserreichs. Ich habe dieses Buch unheimlich gerne gelesen, weil es alles hat, was gute Literatur braucht; es ist unterhaltsam und lehrreich, man findet in dem großen Figurenspektrum garantiert einen persönlichen Liebling und verfolgt gespannt dessen Entwicklung und es verdeutlicht die Situation der Menschen im ausgehenden 19.Jahrhundert.

Dies alles macht es zu einem meiner Lieblingsbücher 2023.

 

 

Buchtipp 

von Christina Niethammer    

Anja Reich
Simone
Aufbau € 23,00

„Einen Tag vor ihrem Tod rief Simone mich noch einmal an. Das weiß ich genau, denn ich hatte keine Zeit.“ So beginnt Anja Reichs Buch über ihre Freundin Simone, die sich mit 27 Jahren 1996 in Berlin das Leben nahm. Das Warum lässt Anja nie los. Auf der Suche nach Antworten unternimmt die Autorin eine Reise zurück in ihr damaliges Leben und spricht nun, 25 Jahre nach Simones Tod, mit Angehörigen, Freunden und Ärzten, liest Briefe, Tagebücher und Dokumente. Sie fährt sogar nach Tschechien, wo Simone viel Zeit bei den  Großeltern verbrachte. Die Ergebnisse ihrer Spurensuche lesen wir als bewegende Geschichte zweier Freundinnen, die in Ostberlin aufwachsen und den Fall der Mauer als junge Erwachsene erleben, die gerade dabei sind, eigene Wege zu gehen. Nach der Wende trennen sich ihre Wege und doch bleiben sie immer verbunden. Anja beginnt zu arbeiten, heiratet und wird Mutter. Simone lässt sich treiben, reist in ferne Länder und beendet weder ihre Ausbildung, noch schafft sie es, im Studium weiterzukommen. Wechselnde Liebesbeziehungen und viele Neuanfänge, ein ständiges Auf und Ab, kennzeichnen Simones Leben.

Das Besondere an „Simone“ ist, dass wir sehr persönliche Einblicke in ein Leben erhalten, das gleichzeitig in ein großes Ganzes eingebettet ist. Für mich war die Lektüre zeitgeschichtlich hochinteressant und zugleich sehr berührend.

 

Buchtipp  

von Christina Niethammer    

Michaela Beck
Das Licht zwischen den Schatten 
Lübbe € 26,00

Michaela Beck ist freiberufliche Autorin und Dramaturgin und arbeitet als Dozentin hauptsächlich im Bereich Drehbuch. Mit ihrem Debüt gelingt es ihr, eine unglaublich spannende deutsche Familiengeschichte aus verschiedenen Perspektiven zu erzählen. Drei Hauptfiguren nehmen uns abwechselnd in ihre Lebensumstände mit. Zunächst Konrad, der 1919 mit seiner Mutter und seinem Bruder nach Berlin zieht. Als einfacher Arbeiterjunge träumt er davon, Medizin zu studieren, und verliebt sich in eine reiche und zudem noch jüdische Kaufmannstochter. Dann begegnen wir der rebellischen Brigitte, die in den 1950er-Jahren in der DDR aufwächst und gegen ihren Willen mit ihrer Familie nach Hamburg flüchten muss. Der Jüngste, André, kennt seine Eltern nicht. Als Adoptivkind lebt er in einer sozialistischen Vorzeigefamilie in Ostberlin und wird als Kunstspringer ausgebildet.

Mich begeistert Michaela Becks Erzählweise, denn mit einem immer größer werdenden Spannungsbogen zeigt sie Parallelen und Verbindungen zwischen den Hauptfiguren, und mit dem Voranschreiten der Lebensgeschichten und dem Zusammenrücken der Personen entwickeln diese gleichzeitig immer mehr Tiefe. So fühlte ich mich förmlich in den Roman hineingezogen und empfand die über 800 Seiten als reines Lesevergnügen.

 

 

 

Buchtipp 

von Annette Böder    

Maja Haderlap
Nachtfrauen
Suhrkamp € 24,00

 

Die Kärntner Slowenin Maja Haderlap legt mit „Nachtfrauen“ ihren zweiten Roman vor, zwölf Jahre nach „Engel des Vergessens“, mit dem sie 2011den Ingeborg-Bachmann-Preis gewonnen hatte. Schauplatz ist die Grenzregion im Süden Kärntens, wohin Mira, seit 30 Jahren in Wien lebend, sich aufmacht, ihre Mutter Anni zu besuchen.

In zweierlei Hinsicht kein einfacher Besuch: zum einen ist das Verhältnis der beiden Frauen distanziert und von einigen Traumata aus der Vergangenheit belastet, zum anderen muß Mira Anni auf den Auszug aus ihrem Häuschen vorbereiten. Anni weiß schön länger von der drohenden Umsiedlung ins Altenheim, ihr Kommentar hierzu ist, dass sie lieber sterben möchte, als das noch erleben zu müssen.

Mira kommt als Städterin, die durch ein Studium, die Heirat mit dem Lehrer Martin und ihrer Berufstätigkeit die Autonomie erlangt hat, die sich ihre Mutter für sich selbst gewünscht hatte. Völlig verschiedene Lebenserfahrungen und Sichtweisen erschweren eine Annährung der beiden Frauen.

Während Miras Besuch in der Heimatregion begegnet diese wieder den alten Geschichten: beim Kramen in Dokumenten und Fotos vergegenwärtigt sie die Familiengeschichte, die geprägt war von Armut, Aufwachsen ohne den Vater, an dessen Tod Mira sich eine Mitschuld gibt. Und sie trifft Jurij, ihre Jugendliebe, zu dem die alte Leidenschaft wieder aufflammt.

Im zweiten Teil des Romans schildert Anni ihre Kindheit, auch vaterlos, die als kalt empfundene Mutter Agnes, den geplatzten Traum, als Tochter einer Tagelöhnerin Lehrerin zu werden.

Im Gegensatz zu Mira lebten Anni und Agnes in einer Gesellschaft, die geprägt vom Patriarchat und den Dogmen der katholischen Kirche war.  Auch die Zugehörigkeit zur slowenischen Minderheit barg immer Konflikte.

Anni findet Halt in ihrer slowenischen Identität und Trost in der Religion, zwei Dinge, die sie ihrer Tochter nicht vermitteln konnte, an diesem Unvermögen macht sie sogar ihr Scheitern als Mutter fest.

Maja Haderlap erzählt diese Geschichte von Verlust und Entfremdung in fein komponierten, eindrücklichen Bildern. Nominiert für den Österreichischen Buchpreis.

 

 

Buchtipp 

von Annette Böder    

Marion Poschmann
Chor der Erinnyen 
Suhrkamp € 23,00

 

Nach außen hin wirkt Mathilda, Mathematik- und Musiklehrerin („Als Musiklehrer konnte man nur leben, wenn einem Musik nichts bedeutete“) an einem Gymnasium, rational und abgeklärt. Dem Verschwinden ihres Mannes möchte sie keine beunruhigende Wirkung auf sie erlauben.                       

Sich selbst und ihren Schülern gegenüber ist sie streng, private Kontakte pflegt sie nur aus einem gewissen gesellschaftlich geforderten Anstand, nicht aus persönlichen Bedürfnissen.

Mit dem Auftauchen ihrer Schulfreundin Birte und dem Ausflug in das Waldhaus von Olivia, ergreift neben den Erinnerungen an die mit den Jugendfreundinnen verbrachte Epoche immer mehr eine Traumwelt von ihr Besitzt.

Diese von mythischen Wesen ( „giftspritzende“ Erinnyen, Erzengel, Sirenen, Harpyien) bevölkerte gedankliche Welt wird von Poschmann in poetischen Bildern dargestellt, die sie gern in Prosagedichten gipfeln lässt.

Die Übergänge sind fließend, immer wieder führt uns die Autorin in den wenig aufregenden Lehreralltag bzw. die in der Realität verankerten inneren Monologen Mathildas zurück.

Wer den 2020 erschienen Roman „Die Kieferninseln“ gelesen hat, weiß mehr als Mathilda,: ihr Mann hat aufgrund eines geträumten Ehebruchs die Flucht ergriffen und ist nach Japan gereist, also nicht zu irgendeinem wissenschaftlichen Kongress aufgebrochen, wie sich Mathilda zur Beruhigung immer wieder als einzigen möglichen Grund seines plötzlichen abschiedslosen Verschwindens vorgaukelt.

Die Macht der Träume wird in diesem Buch in einer neuen, ganz anderen Variation zelebriert, Sprachwitz, Selbstironie und der musikalischer Ton machen die Lektüre zu einem intensiven Erlebnis.

Erschienen im September 2023.

 

 

Buchtipp 

von Sabine Schweitzer  
 

Tove Alsterdal
Blinde Tunnel
Kindler € 22,00

 

Die schwedische Krimiautorin ist bei uns in Deutschland mit ihrer Trilogie um die Ermittlerin Eira Sjödin bekannt geworden. Nun ist ihr bereits 2019 erschienener Roman „Blinde Tunnel“ ins Deutsche übersetzt und hat mir persönlich besser gefallen als „Sturmrot“ und die Folgebände.

Das schwedische Ehepaar Sonja und Daniel wollen sich nach dem beruflichen Aus für Daniel einen Traum erfüllen und kaufen ein ehemaliges Weingut in Tschechien. Auf der Suche nach dem Weinkeller stoßen sie auf einen zugemauerten Raum und die mumifizierte Leiche eines Jungen. Die ortsansässige Polizei scheint sich nicht besonders für den Fall zu interessieren, dafür tut dies eine Besucherin des Ortes, die sich als Anwältin ausgibt. Dann aber kommt diese Frau zu Tode und Sonjas Mann wird verhaftet. Nun bleibt ihr nichts anderes übrig, als auf eigene Faust zu ermitteln.

Ihre Recherche führt sie tief in die Vergangenheit des damaligen Sudetenlandes.

Ein eher „sanfter“ Krimi, in dem man viel über die deutsch-tschechische Geschichte erfährt.

 

 

Buchtipp 

von Sabine Schweitzer  
 

Jarka Kubsova
Marschlande
Fischer € 24,00

 

Was für ein tolles Cover, habe ich mir gedacht, gleich zugegriffen und losgelesen. Und auch der Inhalt hat mich absolut überzeugt.

Die Autorin, die v.a. als Journalistin arbeitet, erzählt uns hier die Geschichte zweier Frauen, die fünfhundert Jahre trennen, die aber beide in den Marschlanden bei Hamburg leben bzw. lebten. Zum einen ist das um das Jahr 1580 herum Abelke Belken, die ganz alleine als Frau erfolgreich einen großen Hof bewirtschaftet und der deshalb die anderen Hofbesitzer mit Missgunst und Unmut begegnen. Eine Jahrhundertflut lässt den Deich brechen und besiegelt dadurch das Schicksal  Abelkes. 

Viele Jahrhunderte später durchstreift Britta, eine Geografin, die Gegend und stößt auf ein Straßenschild mit Abelkes Namen. Sie selbst fühlt sich noch fremd in den Marschlanden, ist gerade erst mit Mann und Kindern aus der Stadt hergezogen. Ihre Neugier ist geweckt und sie begibt sich auf Spurensuche. Vor allem die Geschichte um Abelke Bleken, die es wirklich gab und der am Ende der Prozess gemacht wird, hat mich begeistert , ebenso wie die Beschreibung dieser kargen Landschaft und die klare Sprache, in der das Buch geschrieben ist.

Ein toller historischer Roman, der aber auch den Bezug zu unserer Gegenwart herstellt.

 

 

 

Buchtipp 

von Sabine Schweitzer  
 

Jule Otsuka
Solange wir schwimmen
mare € 22,00

 

Dies ist ein sehr ungewöhnliches Buch zum einen über das Schwimmen und zum anderen über die Demenzerkrankung einer Mutter, und was das für deren Tochter bedeutet. 

Das Schwimmbad liegt tief unter der Stadt und dort treffen sich immer die gleichen Leute und ziehen ihre Bahnen. In ihnen erkennen wir auf wunderbare Weise Menschen wieder, die wir vielleicht selber im Schwimmbad oder am See beobachten können. 

Aber dann tun sich Risse im Boden des Beckens auf und das Bad muss geschlossen werden. Dadurch bekommt auch Alice Leben Risse, erste Erinnerungslücken tun sich auf, die Krankheit schreitet fort und die alte Dame kommt in ein Pflegeheim. Ihre Tochter setzt sich ganz neu mit dem Leben ihrer Mutter, deren Erinnerungen und ihrer gemeinsamen Beziehung auseinander. Die Autorin nutzt in ihrem großartigen Roman verschiedene Erzählperspektiven, die das Buch sehr besonders machen. Im Schwimmbad gibt es nur ein „Wir“ , in der Pflegeeinrichtung geht man zum „Sie“ über und die Tochter erzählt wie in einem inneren Monolog in der „Du“ Form. 

Ein großartiger kleiner Roman voller Wehmut und Humor.

 

 

 

Buchtipp 

von Sabine Schweitzer  
 

Laura Cwiertnia 
Auf der Straße heissen wir anders 
Goldmann € 12,00

 

Die Autorin ist Journalistin bei der ZEIT und verarbeitet in ihrem Debüt einen Teil ihrer eigenen Biografie.
Ihre Protagonistin Karla hat wie sie selbst eine deutsche Mutter und einen armenischen Vater, der in der Türkei aufgewachsen ist. Karla dagegen wächst in einer Hochhaussiedlung in Bremen-Nord auf und weiß wenig über ihre Wurzeln und die ihres Vaters. Als die armenische Großmutter Maryam stirbt, die als junge Frau ihre Familie in Istanbul zurückgelassen hat, um als Gastarbeiterin nach Deutschland zu kommen, hinterlässt sie unter anderem einen goldenen Armreif. Dieser soll einer bestimmten Frau in Armenien überbracht werden. Und so überredet Karla ihren Vater, mit ihr in seine Heimat zu reisen, die er selbst noch nie betreten hat. Ihre Reise führt sie nach Jerewan und bringt sie zugleich einander und ihrer Herkunft näher.

Die Geschichte wird aus der Perspektive von Karla und ihrem Vater Avi erzählt, in Rückblenden erfahren wir auch die Geschichte der Großmutter und am Ende auch die von Karlas Urgroßmutter. Der Genozid an den Armeniern, den die Türkei bis heute leugnet, wird aber nur sehr sparsam und dezent behandelt und führte u. a. doch dazu, dass sich Karlas Ahnen auf der Straße anders nennen mussten (siehe Titel).

In diesem eher schmalen Buch ist kein Wort zu viel, Laura Cwiertnia versteht es meisterhaft, Stimmungen zu erzeugen, poetisch zu erzählen, uns mitzunehmen nach Istanbul, Jerusalem und Jerewan. Ein Buch, das es unbedingt zu entdecken gilt!

 

 

Buchtipp 

von Annette Böder    

Nina Lykke
Alles wird gut!
btb € 12,00

 

In Nina Lykkes neuem Roman „Alles wird gut“ sehen wir die Welt aus Sicht Elins, Anfang 50, Allgemeinärztin in Oslo. Mit viel Selbstironie schildert sie ihre ermüdenden Sprechstunden, die Patienten, die mit immer größer werdenden Ansprüchen in ihrer Praxis auftauchen, ihre immer gleich verlaufenden Abende, die sie mir Weißwein seriensüchtig vor dem Fernseher verbringt. Mit Aksel, einem sportversessenen Orthopäden hat Elin zwei inzwischen erwachsene Töchter. Die Ehe besteht eigentlich nur noch im gemeinsamen Zuhause in einer guten Wohngegend.

 In einer Ecke ihres Sprechzimmers residiert Tore, das Plastikskelett, das als moralische Instanz fungiert und mit seinen Kommentaren Elins manchmal arg wüsten Gedankenfluss stört und sie wieder auf den Teppich bringt. Schlagartig ändern sich die bekannten Muster in Eins Leben, als ihre Jugendliebe Björn auf Facebook erscheint, was zu ersten Verabredungen führt, die schließlich in eine Affäre münden, die, das ist beiden klar, ganz schnell wieder beendet werden muß. 

Der in Norwegen vielfach ausgezeichnete Roman der 1965 in Trondheim geborenen Autorin erzählet nicht nur mit Witz und entlarvender Ehrlichkeit vom privaten Desaster Elins und ihrem Ausbruch aus einer erstarrten Routine, sondern zeigt gleichzeitig ein Panorama großstädtischen Lebens, denn in Eins Wartezimmer sitzen sie alle: die Dicken, die Depressiven, die Hypochonder und die Besserwisser.

Großartiges Lesevergnügen mit Tiefgang.

 

 

Buchtipp 

von Christina Niethammer    

Tomi Obaro
Freundin bleibst du immer 
Hanserblau € 14,00

Drei junge nigerianische Frauen, Zainab, Funmi und Enitan, lernen sich in den 1980er- Jahren an der Universität in Kaduna im Norden Nigerias kennen und werden praktisch Schwestern. Alle drei sind seit ihrer Kindheit mit Schicksalsschlägen vertraut, stammen dabei aus ganz unterschiedlichen Verhältnissen und könnten selbst unterschiedlicher kaum sein. Dennoch entwickelt sich eine tiefe Freundschaft und ihre „Verbindung wird automatisch und unverrückbar, wie eine alte Gewohnheit“.

Die Wege der drei Freundinnen trennen sich nach ihrem Studienabschluss, und erst 30 Jahre später, als Funmis Tochter in Lagos heiratet, treffen sie sich wieder. Enitan reist mit ihrer Tochter aus New York an und Zainab, die als einzige in Kaduna geblieben ist, nimmt eine beschwerliche Busreise auf sich. Fast hätte sie die Hochzeitseinladung ignoriert, denn es fällt ihr schwer, ihren pflegebedürftigen Mann und ihre Söhne alleine zu lassen. Außerdem hat sie Bedenken, nicht in die glamouröse Umgebung zu passen. Doch das Luxusleben, das Funmi in Lagos führt, und die prunkvolle Hochzeit, die sie für ihre Tochter ausrichtet, entpuppen sich als Fassade, an der schon erste Risse zu sehen sind.

Warmherzig erzählt uns Tomi Obaro auf zwei Zeitebenen von drei wunderbaren Frauen, ihren Lebensläufen und ihrer Freundschaft, die sich im Lauf der Jahre verändert und weiterentwickelt. Dabei nimmt sie uns mit hinein in verschiedene Kulturen und lässt uns teilhaben an den Aufbrüchen und Veränderungen.

 

 

Buchtipp 

von Annette Böder    

Monika Helfer
Löwenherz
dtv € 12,00

 

Diesmal gilt die Spurensuche ihrem Bruder Richard, der der Liebling des Vaters war und von diesem den Kosenamen Löwenherz bekam. Seit dem Tod der Mutter und der damit einhergehenden Abkehr des Vaters von seinen Kindern leben die drei Schwestern Monika, Gretel und Renate bei Tante Kathe in Bregenz, der Bruder Richard ist bei Tante Irma in Feldkirch untergebracht. Die Mädchen in ärmlichen, beengten Verhältnissen, der Bruder in einem wohlhabenderen Haus. Beide Ersatzfamilien, die sich gegenseitig meiden, sind auf ihre jeweils ganz eigene Weise seltsam und nicht eben anheimelnd.

Der Bruder kommt seiner Schwester Monika nicht nur durch seinen frühen Tod mit 30 Jahren abhanden, sondern ein erstes Mal schon durch die Trennung in der Kindheit. Dazwischen gibt es Phasen der Annäherung, vor allem in der Zeit, als sich Richard um das Mädchen Putzi kümmert, die ihm genauso zugelaufen ist wie sein Hund Schamasch.

Ganz zu fassen ist der seltsame Charakter Richards jedoch für seine Schwester auch nicht durch die Vergegenwärtigung des Erinnerten beim Schreiben dieses Romans. In ihrer unnachahmlichen Weise gelingt es Monika Helfer trotzdem wieder, durch Sensibilität und Genauigkeit in der Betrachtung der Drastik der Lebensverhältnisse ein sehr lebendiges Bild ihres unkonventionellen Bruders zu zeichnen. Dem Künstler, dem Schriftsetzer, dem „Schmähtandler“, dem Liebevollen und Verzweifelnden setzt sie mit diesem Buch ein Denkmal.

Eine zugleich verrückte und anrührende Lebensgeschichte. Beeindruckend!

 

 

Buchtipp 

von Annette Böder    

Doris Knecht
Eine vollständige Liste aller Dinge, die ich vergessen habe 
Hanser € 24,00

So selbstironisch wie der Titel klingt, zeichnet die Autorin in ihrem eben erschienenen neuen Roman die eigene Person. Für die alleinerziehende Mutter von Zwillingen endet mit dem Auszug der Kinder eine Lebensphase. 

Die Altbauwohnung in Wien ist zu groß und zu teuer; es muß ein neuer Ort her, der bezahlbar ist und zum Leben taugt. Verbunden mit dem Aufbruch in ein neues, selbstbestimmteres Leben ist der Abschied, das Ausmisten, Wegwerfen, Verkaufen und Verschenken von Überflüssigem.Beim Betrachten all dieser Besitztümer werden Erinnerungen wach, aber es tun sich auch gewaltige Erinnerungslücken auf… 

Ja, es geht um Alltägliches, aber die Art, wie die österreichische Autorin das Spannungsfeld zwischen Aufbruch und Abschied ausleuchtet, verleiht der Lektüre ihren Reiz. Wie wird man zur Person, die man ist? Welche Rolle spielen die Eltern, die Geschwister, die Freundinnen und Freunde, die eigenen Kinder? Und nicht zuletzt die Orte, an denen sich das Leben hauptsächlich abspielt, die Wohnung, das Viertel, die Stadt, das Land?

Ein Roman, der Mut macht und zeigt, wie befreiend es sein kann, Ballast abzuwerfen und einen neuen Weg einzuschlagen - auch in fortgeschrittenem Alter.

 

 

Buchtipp 

von Sabine Schweitzer  
 

Gisa Klönne
Für diesen Sommer 
Rowohlt € 14,00

Dieses Buch ist für mich ein herausragendes Beispiel für all die vielen Generationenromane, die gerade auf dem Markt sind, unter anderem, weil die Autorin mit ihren beiden Hauptfiguren zwei unheimlich glaubwürdige Charaktere erschaffen hat, mit denen sie sehr empathisch umgeht.

Franziska, inzwischen über Fünfzig, kehrt nach 30 Jahren für einen Sommer in ihr verhaßtes Elternhaus zurück, um sich um ihren 84 jährigen Vater Heinrich zu kümmern. Bislang hat das ihre Schwester Monika übernommen, doch die braucht dringend eine Auszeit.

Franziska hatte sich schon als Jugendliche mit dem Vater überworfen, kämpfte gegen die Startbahn West, die der Vater als Vermessungstechniker mit geplant hatte, wollte über Sauren Regen und Tschernobyl diskutieren, schloss sich der linken Szene an und brachte so den konservativen Vater erst recht gegen sich auf. Nun kehrt sie zurück, ihr Lebenstraum ist gescheitert und sie sieht sich erneut mit den konträren Sichtweisen der Generation ihrer Eltern konfrontiert. Aber da sind auch viele schöne, verschüttete Kindheitserinnerungen und Verständnis für den alten Vater. Und andersherum geht es Heinrich mit seiner widerspenstigen Tochter genauso. Aus den wechselnden Perspektiven der beiden wird uns die Handlung erzählt, die für mein Dafürhalten ein schönes und glaubwürdiges Ende findet.

Eine echte Empfehlung für eine gelungene Sommerlektüre.

 

 

Buchtipp 

von Annette Böder    

Rose Tremain
Lily. Eine Rachegeschichte 
Insel € 11,00

Von der ersten Seite an fesselt uns die englische Autorin Rose Tremain mit dem Schicksal Lilys, deren Geschichte dramatisch beginnt und bis zu ihrem 17. Lebensjahr vor allem von Einsamkeit und Gewalt geprägt ist. Lily wird im London des 19. Jahrhunderts geboren und noch am Tag ihrer Geburt ausgesetzt. Das Heulen von Wölfen führt den jungen Wachtmeister Sam Trench zu dem Baby, das in Sackleinen gewickelt und an den Zehen bereits angenagt wurde.

Lily wird im Findelhaus abgegeben, wo sie bleibt, bis sie in einer Pflegefamilie auf der Krähenhorstfarm in Suffolk ein liebevolles Zuhause und zum ersten Mal in ihrem Leben Zugehörigkeit findet. Natürlich weiß sie nicht, dass sie im arbeitsfähigen Alter von sechs Jahren ins Findelhaus zurückgebracht werden wird. Ein traumatisches Erlebnis stellen diese Rückkehr und alles, was Lily hier die nächsten Jahre erdulden muss, dar.

Ausgebildet als Näherin, arbeitet Lily später in Belle Prettywoods Perücken-Emporium, wo sie eine der geschicktesten Arbeiterinnen ist. Sie versucht ihre Mutter zu finden, also die Frau, die sie im Stich gelassen hat. Gleichzeitig sucht Sam, der sie einst fand und dessen Ehe kinderlos geblieben ist, Lilys Nähe. Was sind seine Motive, kommt er als Beschützer oder als Verführer? Und was weiß er über Lilys ungeheure Tat? Dass sie sich gerächt hat für all das Erlittene, wissen wir als Leserinnen von Anfang an, doch wen hat ihre Rache getroffen?

Die Autorin konzentriert sich auf wenige Personen und Ereignisse, die sie sehr eindringlich schildert. Durch den Wechsel der Zeitebenen erzeugt Rose Tremain eine ungeheure Spannung. Natürlich sind all unsere Sympathien bei Lily, die sich befreit und am Ende dieser dunklen Geschichte in eine lichtere Zukunft blickt.

 

 

Buchtipp 

von Annette Böder    

Stine Pilgaard
Meter pro Sekunde
Kanon € 14,00

Zwischen Windrädern, Kühen und wortkargen Jütländern findet sich die Erzählerin dieser Geschichte wieder, als ihr Freund eine Stelle als Literaturlehrer an der Heimvolkshochschule in Velling antritt.

Dazu muss sie auch die Rolle als Mutter eines Babys einüben, den Führerschein machen und einen Job finden – kurz, sie, die Frau in den Dreißigern, muss sich ganz neu erfinden.

Zum Glück ist sie trinkfest und schlagfertig, wenn auch in praktischen Dingen nicht sehr begabt. Sie findet eine gute Freundin, sehr geduldige Fahrlehrer, eine erfahrene Tagesmutter und eine Arbeit als Kummerkasten-Tante bei der Lokalzeitung. Hier punktet sie mit einer genialen Kombination aus Übermut und Lebenserfahrung: Die Fragen, die beim Kummerkasten eingehen, beantwortet sie meist mit Beispielen aus ihrem eigenen Leben, erfrischend, klug und tröstlich. Ob sie die Zuschriften auch selbst kreiert?

Wie auch immer, ein großer Spaß erwartet die Leserinnen und Leser. Mit sehr viel Komik, etlichen Liedern zum Mitsingen und der Schilderung des besonderen dänischen Modells der Heimvolkshochschule, einer von Nikolai F. S. Grundtvig im 19. Jahrhundert begründeten nicht staatlichen pädagogischen Einrichtung, die auf Gemeinschaftlichkeit, der Philosophie der Aufklärung und protestantischen Grundlagen beruht. Die Lehrkräfte und ihre Familien leben auf dem Gelände rund um die Schule und Privates und Dienstliches ist nicht zu trennen, Integration ist gefragt. Die Jugendlichen, die hier Orientierung nach dem Schulabschluss suchen, bevölkern abends das Wohnhaus des Literaturlehrers und schwängern die Luft mit dem Rauch der von ihm geschnorrten Zigaretten …

Dem 2020 gegründeten Kanon Verlag ist mit der Veröffentlichung dieses erfolgreichsten dänischen Romans der letzten Jahre ein großer Wurf gelungen, die musikalische Übertragung ins Deutsche kommt vom preisgekrönten Übersetzer Hinrich Schmidt-Henkel.

 

 

Buchtipp 

von Christina Niethammer    

Louise Erdrich
Der Nachtwächter
Aufbau € 14,00

Der mit dem Pulitzer-Preis ausgezeichnete Roman der amerikanischen Autorin Louise Erdrich basiert auf einem Teil ihrer Familiengeschichte, den sie vor allem anhand von Aufzeichnungen und Briefen ihres Großvaters rekonstruiert hat. Die US-Regierung plante Ende der 1950er-Jahre, die amerikanischen Ureinwohner aus ihren vertraglich zugesicherten Reservaten zu vertreiben. So auch den Stamm der Turtle Mountain Band of Chippewa, dessen Vorsitzender ihr Großvater damals war. Im Roman verkörpert ihn der Nachtwächter Thomas Wazhashk, der in einer Fabrik für feinmechanische Arbeiten mit Edelsteinen am Rande des Reservats in North Dakota arbeitet. Tagsüber kümmert er sich um seine Farm, die Familie und Angelegenheiten des Stammes. Während seiner Nachtschichten schreibt er Briefe an öffentliche Stellen und Personen, um für die Rechte des Stammes einzustehen. Als er von dem geplanten Terminierungsgesetz hört, kann er den Inhalt zunächst nicht einordnen, setzt sich dann intensiv damit auseinander und organisiert eine Delegation nach Washington, um dieses Gesetz, das zur Enteignung des Stammes führen würde, zu verhindern.

Als weitere Hauptfigur begleiten wir die 19-jährige Pixie. Sie ist hübsch, von jungen Männern umschwärmt und die beste Arbeiterin der Fabrik. Ihr Vater terrorisiert als Alkoholiker die Familie, und so sorgt sie auch für ihre Geschwister und ihre Mutter. Außerdem ist sie auf der Suche nach ihrer älteren Schwester, die in Minneapolis verschwunden ist. Als Pixie jedoch mit der Delegation ihres Onkels nach Washington kommt, reift in ihr der Entschluss, nicht im Reservat zu bleiben.

Louise Erdrich nimmt uns mitten hinein in eine Lebenswelt, in der der Blick auf die Welt und der Umgang mit der Natur besonders sind. Dabei vermittelt sie eindrucksvoll, wie die verschiedenen Personen und die unterschiedlichen Generationen mit dem Umbruch in ihrer Gesellschaft umgehen, sich der Lebensweise der Weißen anpassen oder an den Anforderungen scheitern. Die Autorin weckt auf sensible Weise Verständnis für das Leben und Denken der Native Americans und für das Leid, das sie erfahren haben, aber sie zeigt auch die Stärken auf, die in der Gemeinschaft einer Familie oder eines Stammes stecken können.

 

 

Buchtipp 

von Annette Böder    

Doris Knecht 
Die Nachricht 
dtv € 13,00

Vier Jahre ist es her, dass Ludwig, Ruths Ehemann, bei einem Skiunfall ums Leben kam. Weiterhin lebt sie mit ihrem jüngsten Sohn Benni im Holzhaus, das Ludwig und sie am Rande einer Kleinstadt in der Nähe Wiens gebaut haben. Simon Brunner, der als Kinderpsychologe Benni therapiert, wird Ruths Geliebter, aber eine verlässliche Beziehung entwickelt sich nicht, da Simon sich nach kurzen Phasen der Nähe und Vertrautheit immer wieder zurückzieht. In diese Zeit fällt auch der Anfang der beleidigenden und herabwürdigenden Nachrichten, die von verschiedenen anonymen Absendern an Ruth, ihre Freunde, ihre Familie und sogar an ihre Auftraggeber geschickt werden. Ruth vermutet eine heimliche Liebschaft Ludwigs, auf deren Existenz sie erst nach seinem Tod gestoßen ist, als Absenderin.

Wie sich das Leben Ruths, die plötzlich zur Zielscheibe von Hass wird, ändert, wie eine allgemeine Verunsicherung in ihr Leben einbricht und die Beziehung zu Freundinnen, Freunden und Nachbarn auf die Probe gestellt wird, ja wie sie schließlich den Boden unter den Füßen zu verlieren droht, erzählt Doris Knecht subtil und spannend. Raffinierte Auslassungen verstärken beim Lesen das Gefühl von etwas Diffusem, Ungreifbarem, dem sich die Protagonistin ausgesetzt sieht. Bis zur Klärung braucht Ruth sehr viel Selbstdisziplin. Durch Rückbesinnung auf die eigenen Stärken und die Fokussierung auf das Wichtige entgeht sie dem Verrücktwerden.

Psychologisches Kammerspiel, spannender Lesestoff.

 

 

Buchtipp 

von Christina Niethammer    

Sigrid Nunez 
Was fehlt dir 
Aufbau € 12,00

Nachdem mich die amerikanische Autorin schon mit ihrem letzten Roman („Der Freund“) tief beeindruckt hat, ist mit „Was fehlt dir“ meine Begeisterung für sie noch gewachsen. In der Rahmenhandlung des Romans geht es darum, dass die Ich-Erzählerin von einer Jugendfreundin kontaktiert wird, die unheilbar krank ist. Die Freundin wendet sich mit einem Wunsch an die New Yorker Schriftstellerin, der diese in ein Dilemma bringt. Trotz aller Bedenken lässt sie sich auf die Bitte der Freundin, zu der sie lange keinen Kontakt mehr hatte, ein und fährt mit ihr in ein Ferienhaus an die Küste Neuenglands, um sie in ihrer letzten Lebenszeit zu begleiten. Als Leser*innen reisen wir mit und die Protagonistin lässt uns teilhaben an ihren Gedanken und Gefühlen, indem sie uns von vergangenen und aktuellen Begegnungen erzählt, vor allem von Frauen, die in ihrem Leben nach Sinn und Bestimmung suchen. Dazu kommen Anekdoten, Erinnerungen und Zufallsfunde aus Büchern und Filmen. Es sind ungewöhnliche Liebesbeziehungen, außergewöhnliche Situationen, das Nachdenken über das Abschiednehmen und die eigene Vergänglichkeit, die in den einzelnen Geschichten zum Ausdruck kommen. Trotzdem lesen wir einen lebensfrohen Roman, denn Sigrid Nunez bringt ihre klugen Gedanken in einer schnörkellosen Sprache zum Ausdruck und verleiht dem Ganzen eine große Leichtigkeit. So gibt es zum Beispiel auch eine Katze, die selber zu Wort kommt und uns ihre Geschichte erzählt.

Es lohnt sich, diese Autorin zu entdecken!

 

 

 

Buchtipp 

von Christina Niethammer    

Anne Youngson 
Das Versprechen, dich zu finden 
HarperCollins € 12,00

Im Sommer 1964 schreibt Professor Glob einer Gruppe von Schulmädchen einen Brief, weil sie ihn wegen archäologischer Entdeckungen als Erste angeschrieben hatten, und widmet ihnen ein Buch. Tina Hopgood ist eines dieser Mädchen gewesen und schreibt nun nach 50 Jahren jenen Professor in Dänemark an. Kürzlich ist ihre beste Freundin verstorben und es war schon immer der Traum der beiden gewesen, den Tollund-Mann zu sehen. Sie glaubt, dass eine Bedeutung darin liegt, dass die Verbindung zum Professor besteht, und dass es darüber hinaus eine Verbindung zu dem Mann gibt, der vor 2000 Jahren im Moor begraben wurde. Der Professor ist längst tot, dennoch erhält die Schreiberin eine Antwort. Anders Larsen, der Kurator des Silkeborg Museums, beantwortet ihren Brief und ermutigt sie, das Museum und den Tollund-Mann besuchen zu kommen. Der zufällig begonnene Briefwechsel führt zu einem regen Austausch und es entwickelt sich eine innige Freundschaft zwischen ihnen.

Dieser Debütroman der 70-jährigen englischen Autorin hat mich von der ersten Seite an begeistert. Ein leises und nachdenklich stimmendes Buch, das gleichzeitig unterhaltsam ist.

 

 

Buchtipp 

von Sabine Schweitzer  
 

Caroline Wahl
22 Bahnen  
Dumont € 22,00

Tildas Tag ist streng durchgetaktet: morgens Uni, danach Supermarktkasse und dann 22 Bahnen schwimmen. Abends kann sie sich dann um ihre kleine Schwester Ida kümmern. Alle außer Tilda sind nach dem Abi weggezogen, für sie kommt das allerdings nicht in Frage, denn dann wäre Ida mit der alkoholkranken Mutter alleine, Väter zu den beiden Mädchen gibt es nicht.
Aber dann kommt alles ins Wanken, Tildas Prof bietet ihr eine Promotionsstelle in Berlin an und außerdem taucht Viktor im Schwimmbad auf, der große Bruder eines früheren Freundes, und schwimmt genau wie Tilda 22 Bahnen.
Caroline Wahl erzählt uns in ihrem Debütroman auf sehr eindrückliche Weise die Geschichte der beiden Schwestern und und davon, wie sie sich emanzipieren. Die Sucht der Mutter mit all ihren Höhen und Tiefen wird schonungslos und äußerst glaubwürdig geschildert. Und doch ist dies ein hoffnungsvolles Buch, das auch von einer zarten Liebe erzählt. Die Autorin findet eine ganz eigene, sehr besondere Sprache und mich hat das Buch von der ersten Seite an gefesselt.

 

 

Buchtipp 

von Sabine Schweitzer  
 

Katharina Döbler 
Dein ist das Reich 
Ullstein € 13,99

Der Titel entstammt dem Vaterunser und das nicht grundlos, denn in diesem Roman geht es um die Geschichte der Großeltern der Autorin, die als Missionare kurz vor dem Ausbruch des 1. Weltkriegs nach Papua-Neuguinea, damals Kaiser-Wilhelms-Land, geschickt wurden. Heiner und Marie entstammen armen fränkischen Bauernfamilien und werden von der Missionsgesellschaft quasi rekrutiert und zwangsverheiratet und finden sich recht überfordert auf einer Kokospalmenplantage im Urwald wieder. Johann, der als Missionar zu sehr den engeren Kontakt zu den Papua sucht und ein Kind von einer Einheimischen hat, wird nach Deutschland zurückbeordert und lernt dort Nette kennen, die gerade auf Heimaturlaub ist und eigentlich als selbstständige Schneiderin in den USA lebt. Hier ist es nun echte Liebe und so dürfen die beiden zurück in die Südsee und Johann bekommt eine zweite Chance.
Katharina Döbler beschreibt den Kolonialismus ohne eigene Wertung und doch so, dass man voller Unverständnis und mit Bestürzung liest, was sich die Deutschen damals angemaßt haben. Auch die Schilderung der Zeit des Dritten Reichs, die die beiden Paare und ihre Kinder zunächst in den Kolonien verbringen, gibt tiefe Einblicke in die damalige Ideologie. Der Rezensent der Süddeutschen Zeitung betitelt den Roman als „ die bewegende und unerschrocken erzählte Geschichte einer deutschen Familie, und wie sie eine kollektive Wahnidee zu Tätern und Opfern gemacht hat.“ Denn die Geschehnisse in Papua-Neuguinea wirken auch in der nächsten Generation fort.
Ein äußerst spannendes Buch über ein selten thematisiertes Kapitel deutscher Geschichte.

 

 

Buchtipp 

von Sabine Schweitzer  
 

Jessie Greengrass
Und dann verschwand die Zeit 
Kiepenheuer & Witsch € 22,00

Ich muss zugeben, dass ich zu diesem Buch gegriffen habe, weil mir das Cover ausgesprochen gut gefallen hat. Aber tatsächlich hat mich dann auch der Inhalt überzeugt.
Hier wird uns aus vier unterschiedlichen Perspektiven berichtet, was sich in High House, einem hoch gelegenen umgebauten Sommerhaus etliche Stunden von London entfernt, am Meer ereignet. Caro und ihr kleiner Halbbruder Pauly werden von den Eltern, beides Umweltwissenschaftler, per Anruf informiert, dass sie sich unmittelbar dorthin begeben sollen, da eine Katastrophe mit sintflutartigen Überschwemmungen bevorsteht. Dort angekommen, werden sie von Grandy, einem älteren Herrn, der als Gärtner und Hausverwalter fungiert und dessen erwachsener Enkelin Sally erwartet. Von da an sind die vier praktisch auf sich allein gestellt, das angrenzende Dorf verwaist zunehmend, der Aussenkontakt bricht schließlich ganz zusammen. Dieses unfreiwillige Zusammenleben beschreibt die Autorin absolut überzeugend. Zukunftsängste, Verzweiflung, Neid aber auch Zusammengehörigkeitsgefühl und das Wissen um das Aufeinanderangewiesensein spielen eine große Rolle im Leben der vier Personen.

Ein eindrückliches Buch, das auch neben den psychologischen Aspekten tolle Naturbeschreibungen zu bieten hat.

 

 

Buchtipp 

von Annette Böder    

Daniel Glattauer
Die spürst du nicht 
Zsolnay € 25,00

Zwei gut situierte Wiener Familien möchten in der Toskana eine gemeinsame Ferienwoche verbringen. Elisas Tochter Sophie Luise darf wegen drohender Langeweile eine Klassenkameradin mitnehmen.

Dieses Mädchen ist Aayana, die Tochter somalischer Flüchtlinge, die in Österreich Asyl erhalten haben. Die Einwilligung der islamischen Familie zur Mitreise ihrer Tochter zu  erhalten war nicht einfach, zumal Sprachbarrieren ein vernünftiges Gespräch verhindert haben.

Gleich am ersten Abend endet der geplante Aufenthalt mit dem Tod des somalischen Mädchens, das im Pool ertrunken ist.

Als von Seiten der Somalis eine enorme Schadenersatzforderung gestellt wird, lässt sich ein Gerichtsverfahren nicht mehr verhindern. Da kann auch der zunächst so von sich überzeugte Staranwalt nicht viel ausrichten. Und was in dieser nervenaufreibenden Zeit mit der ach so vernünftigen Sophie Luise passiert, verlieren die Eltern vollkommen aus dem Blick. Was nun folgt an Vertrauensverlust, Rufschädigung (denn Elisa Strobl-Marinek ist Abgeordnete der Grünen), familiärer und ehelicher Zerrüttung zeigt Glattauer in eindrücklichen Szenen, mit Sprachwitz und entlarvenden Dialogen.  Die Charakterisierung seiner Figuren ist bravourös gelungen.   Durch die Presseberichte und die Chat-Kommentare im Forum der Zeitung baut Glattauer eine weitere, öffentliche  Ebene in den Roman ein.               

Brisante gesellschaftliche Fragen auf eine so unterhaltsame Art zu thematisiert ist eine Kunst, die dieser Autor glänzend beherrscht.

 

 

Buchtipp 

von Sabine Schweitzer  
 

Vera Buck
Wolfskinder
Rowohlt € 17,00

Weit oben in den Bergen liegt die Siedlung Jakobsleiter, abgeschieden von der modernen Welt, hier gelten nur die Regeln der Natur. Nur die beiden Jugendlichen Jesse und Rebekka sind das Tor zur Außenwelt, sie gehen im weiter unten gelegenen Dorf in die Schule, kaufen dort ein, holen die Post ab. Aber diese Ansiedlung einzelner Hütten birgt viele dunkle Geheimnisse. Jesse zum Beispiel zieht heimlich ein Wolfsjunges auf, dessen Mutter sein Vater erschossen hat. Und Rebekka wünscht sich heimlich fort, von der Einsamkeit und der alkoholkranken Mutter. Und dann verschwindet sie tatsächlich, ganz ohne Jesse informiert zu haben. Und auch die Lehrerin der Dorfschule ist plötzlich weg, nachdem sie Jakobsleiter einen Besuch abgestattet hat. Außerdem gibt es noch das Mädchen Edith, das sich immer verstecken soll und die Siedlung nicht verlassen darf. Zufällig wird die angehende Journalistin Smilla auf die Sache aufmerksam, auch ihre Freundin ist vor vielen Jahren spurlos verschwunden und Smilla gibt sich die Schuld dafür. Sie beginnt zu recherchieren und stößt auf schier unglaubliche Wahrheiten.

Dieser Thriller wird aus der Perspektive der vier Protagonist:innen erzählt und ermöglicht es uns Leser:innen, dem Geschehen immer ein Stück voraus zu sein.

Dies ist ein ungeheuer spanender Roman, der durchaus literarische Ambitionen hat, einen beklemmenden Schauplatz und tolle Charaktere. Spannung garantiert!

 

 

Buchtipp 

von Annette Böder    

Edgar Selge
Hast du uns endlich gefunden 
Rowohlt € 14,00

In diesem Erinnerungsbuch. das seinen Brüdern gewidmet ist, schildert der bekannte Schauspieler anhand prägender Erlebnisse seine Kindheit und Jugend im Nachkriegsdeutschland.

Edgars Vater ist Gefängnisdirektor in Herford. Im Elternhaus spielte Musik eine große Rolle. Es gibt Hauskonzerte für ausgewählte Gefangene, zu denen diese nachmittags in das Wohnhaus der Familie eingeladen werden. Der Vater begleitet dabei jeweils am Klavier einen eigens engagierten Profigeiger.

Edgar nimmt die Position des schwarzen Schafs unter den Brüdern ein, ist ein mittelmässiger Schüler und schlechter Klavierspieler. Vor allem seine Leidenschaft fürs Kino führt zu Lügen, Diebstahl und nächtlichen Ausflügen, die nicht unentdeckt bleiben. Gestraft wird mit dem Rohrstock. Die Eltern sind aus Ostpreußen geflohen. Nach seiner Entnazifizierung amtiert Edgars Vater als Oberstaatsanwalt. Inhaftierten Nazi-Generälen verschafft er alle Annehmlichkeiten bis zu deren Entlassung 1953. Die Schatten der Vergangenheit sollen durch Bildung und Kultur gebannt werden, doch der bei beiden Eltern tief verinnerlichte Antisemitismus führt in der Familie zu immer mehr Konflikten. Der autobiografische Text wartet mit einigen Anekdoten auf, teilweise komisch, manchmal dramatisch, führt jedoch auch tief in das Seelenleben des Heranwachsenden.

Ein in seiner Aufrichtigkeit beeindruckendes, sehr persönliches Memoir, das darüber hinaus den Generationenkonflikt der Nachkriegszeit sensibel analysiert.

 

 

Buchtipp 

von Annette Böder    

Khuê Pham
Wo auch immer ihr seid 
btb € 12,00

Kiêu, die Erzählerin, in Berlin geborenen Journalistin vietnamesischer Abstammung, nennt sich Kim. Sie hat das Gefühl, ihren eigentlichen Namen Kiêu selbst nicht richtig aussprechen zu können und ist es leid Erklärungen abzugeben. Seit ihrer Kindheit möchte sie nur eins: so deutsch sein wie möglich. Auf Fragen woher sie komme, antwortet sie jedesmal „aus Berlin“. Jetzt ist sie dreißig, ihr Freund eröffnet ihr, für ein paar Jahre nach Japan gehen zu wollen um ein Restaurant zu eröffnen. In Kalifornien stirbt Kiêus Großmutter, die sie nur von Fotos kennt. Widerwillig begibt sie sich als einzige der drei Geschwister mir ihren Eltern auf die Reise in die USA.

Dies ist die Gegenwartsebene des Romans. In langen Rückblenden wird die Geschichte ihrer Eltern erzählt, die sich Ende der 60er-Jahre in Bayern bei einem Deutschkurs des Goethe-Instituts kennenlernen. Kiêus Vater Minh, ältester Sohn einer Saigoner Familie wird nach Deutschland geschickt, um Medizin zu studieren. Nach seiner Rückkehr will er in der Heimat ein Krankenhaus eröffnen.                                                     

In Berlin organisieren derweil linke Studenten den Widerstand gegen den Vietnamkrieg, die Politisierung Minhs beginnt erst hier. Nachdem er sechs Stunden gebraucht hat, mithilfe eines Wörterbuchs einen fünfseitigen Spiegel-Bericht zu verstehen, beginnt er zu Versammlungen und Demonstrationen zu gehen. Hoa, das Mädchen aus Nordvietnam, das mit einem Stipendium der Partei in Heidelberg VWL studiert und später Minhs Frau werden wird, verliert durch ihr politisches Engagement die staatliche Unterstützung und wird zur Verbannten erklärt. Die beiden heiraten gegen den Willen von Minhs Familie, es kommt zum Bruch. Welche dramatischen Ereignisse sich in Vietnam abspielen und wie sich die Flucht von Großmutter, Onkel und Tante gestaltet, das erfährt Kiêu erst während des Aufenthalts in Kalifornien. Für Kiêu beginnt eine Zeit der Selbsterkenntnis und des Umbruchs.

Eine großartig erzählte Familien- und Identitätsgeschichte ist dieses sehr überzeugende Debüt, eine Annäherung an die eigenen Wurzeln.

 

 

Buchtipp 

von Annette Böder    

Nava Ebrahimi 
Das Paradies meines Nachbarn 
btb € 12,00

Die 1978 in Teheran geborene, in Österreich lebende Autorin Nava Ebrahimi erzählt in „Das Paradies meines Nachbarn“ von Müttern und Söhnen, Entwurzelung und Lebenslügen in der Folge des Iran-Irak-Krieges.

Sina, ein Designer mit deutscher Mutter und persischem Vater, ist in München aufgewachsen. Sein neuer Chef ist Ali Najjar, eine Legende in der Branche. Er stammt aus dem Iran und behauptet keine Angst zu kennen, da er als Kindersoldat den Krieg überlebt hat. Einen Teil seines Erfolges verdankt er dieser Legende, lehnt es aber immer ab, näher Auskunft zu geben. Seine Familie und seine Vergangenheit im Iran hat er weit hinter sich gelassen.

Sein Umgang mit Mitarbeitern ist fordernd und respektlos, Motto: No preasure - no diamonds.

Sina, der eine privaten Beziehungskrise durchmacht und sich beruflich in einer Sinnkrise befindet, nimmt sich eine Auszeit wird von Najjar gebeten, mit ihm nach Dubai zu reisen, um dort einen Brief seiner verstorbenen Mutter entgegen zu nehmen.

Der Kontaktperson aus Teheran, eine Art Adoptivsohn seiner Mutter, möchte Ali Najjar nicht begegnen, mit gutem Grund, wie sich dann zeigt.

Nava Ebrahimi erzählt in ihrer klaren Sprache eine aufrüttelnde Geschichte über Schicksale und Brüche im Leben, vor dem Hintergrund eines Krieges, der lange her scheint, dessen Auswirkungen auf die Gegenwart sich der Protagonist jedoch nicht entziehen wird können.

 

 

Buchtipp 

von Christina Niethammer    

Nguên Phan Quê Mai
Der Gesang der Berge 
Insel € 12,00

„Für meine Großmutter, die an der großen Hungersnot verstarb; für meinen Großvater, der ein Opfer der Landreform wurde; und für meinen Onkel, dem der Vietnamkrieg die Jugend nahm.“

Die Autorin, 1973 in Nordvietnam geboren, nimmt uns anhand ihrer eigenen Familiengeschichte mit hinein in fast ein Jahrhundert vietnamesischer Geschichte. Von der französischen Kolonialzeit über die Machtergreifung der kommunistischen Vietminh, die Trennung zwischen Nord- und Südvietnam und den Vietnamkrieg bis in die Zeit nach dem Krieg spannt sich der Bogen dieses Romans. Dabei wählt Quế Mai eine ganz besondere Erzählperspektive: Sie verleiht Großmutter Diêu Lan und ihrer Enkelin Hu’o’ng, die bei ihr in Hanoi in den frühen 1970er-Jahren aufwächst, eine Stimme. Diêu Lan verliert früh den Vater; auch ohne ihren Ehemann, ihren Sohn und ihren Bruder muss sie aufgrund von Krieg und Besatzung die historischen Veränderungen und wirtschaftliche Not meistern. Sie beweist Mut, Entschlossenheit und viel Kreativität dabei. So entscheidet sie sich in den 1980er-Jahren, nicht mehr als Lehrerin zu arbeiten, sondern wird zur „Händlerin“, um ihre Lebensbedingungen zu verbessern. Sie gibt Hu’o’ng amerikanische Schmuggelliteratur zu lesen, in der Hoffnung, ihre Denkweise zu verändern. Es ist aber vor allem ihre unerschütterliche Liebe, die sie und ihre Familienmitglieder durch die Zeiten von Vertreibung, Flucht und Not trägt.

Tief beeindruckt hat mich dieser berührende Roman, der auch durch seine poetische Sprache eine ganz besondere Atmosphäre schafft. Trotz des Krieges und des daraus entstehenden Leids gibt es Mut und Hoffnung, die durch diese besonderen Frauen, die ihre ganz eigene Geschichte schreiben, verkörpert werden.

 

 

Buchtipp 

von Annette Böder    

Michael Köhlmeier
Frankie
Hanser € 24,00

Der bald 14-jährige Frank ist ein braver Bub aus der Wiener Blechturmgasse, das Verhältnis zu seiner alleinerziehenden Mutter ungestört von pubertären Krisen, jedenfalls bis zum Beginn dieser Geschichte.                      

Verbrechen kennt Frank nur aus dem Tatort, den er jeden Sonntag mit der Mutter schaut, sonst liebt er Tierdokumentationen. Dann tritt ein wahrer Verbrecher in sein so gemütliches Leben, in Gestalt des Großvaters. Dieser hat 18 Jahre seiner Strafe verbüßt, und kommt jetzt wegen guter Führung vorzeitig frei. Also ein Kapitalverbrecher, soviel ist klar. Doch die Mutter weigert sich über die kriminelle Vergangenheit ihres Vaters zu sprechen und der Großvater selbst tischt eine Geschichte auf, die er dann aber als frei erfunden abtut.

Gleich ändert der Großvater die Anrede Frank in das viel verwegener klingende „Frankie“ um,  was dieser sich vergeblich verbittet.

Zunächst reagiert der Junge verängstigt auf diesen sehr geheimnisvollen, irgendwie wilden und auch tyrannischen alten Mann in seinem Leben, in dem ein männliches Vorbild bisher gefehlt hat, genauso wie gute Freunde. Am Ende siegt aber die Faszination, die der entlassene Sträfling auf seinen Enkel ausübt, seine Respektlosigkeit, seine Skrupellosigkeit imponieren dem Pubertierenden. Der Alte fordert ihn heraus, traut ihm was zu und zieht ihn in seinen Bann.

Wie von einem bösen Zauber berührt, legt Frank in kürzester Zeit alle Tugenden, seine von der Mutter geprägten Moral- und Geschmacksvorstellungen ab und verwandelt sich unter dem Einfluss des Großvaters in Frankie, um dann bald mit einer Damenpistole zu hantieren - tatsächlich, oder nur in seiner Vorstellung?

Ein äußerst witziger, schräger und spannender Roman, meisterhaft erzählt von einem der größten österreichischen Gegenwartsautoren.

Erschienen im Januar 2023.

 

 

Buchtipp 

von Annette Böder    

Arno Geiger
Das glückliche Geheimnis 
Hanser € 25,00

Eine Geschichte erzählen, damit sie enden kann, gleichzeitig ein Geheimnis lüften, das Arno Geiger über Jahrzehnte gehütet hat, mit „Das glückliche Geheimnis“ lässt uns der Autor teilhaben an seinem „Doppelleben“ und gewährt gleichzeitig Einblick in seinen Werdegang als Schriftsteller. 

Zunächst ist da der Wille, Schriftsteller zu sein, es zu werden geht mit allerlei Widerstand und Enttäuschung sowie daraus resultierenden Selbstzweifeln einher. Doch dann kommt der Erfolg, mit dem Roman „Es geht uns gut“, der 2005 den Deutschen Buchpreis erhält (nachdem der Verlag ihn gar nicht erst eingereicht hatte). Die plötzliche Berühmtheit bringt andere Herausforderungen und Belastungen mit sich.Wie sehr in allen Schaffensphasen die „Runden“ die Arno Geiger erst zu Fuß, später mit dem Fahrrad, durch Wien dreht, nicht nur als körperlicher Ausgleich zum „Feststecken hinterm Schreibtisch“ sondern als Inspirationsquelle auf sein Schreiben wirken, erfahren wir in diesem Text. „Manchmal frage ich mich, ob nicht vielleicht die Runden…mein versteckter Eingang waren zu jener unterirdischen Welt, die der Gegenstand der Literatur ist“.

Es fließt Privates ein: Liebesbeziehungen, die Sorge um die Eltern, Schicksalsschläge und die Angst vor ihnen, das Älterwerden und die veränderte Weltsicht, die Sicht auf die sich ändernde Welt. Interessant vor allem für Leser:innen, die Romane von Arno Geiger gemocht haben. Auf jeden Fall macht dieser Bericht Lust, die Werke des österreichischen Autors (wieder-) zu entdecken.

 

 

Buchtipp 

von Sabine Schweitzer  
 

Heike Duken
Denn Familie sind wird trotzdem 
blanvalet € 12,00

Zunächst war ich skeptisch: schon wieder eine Familiengeschichte mit Ausgangspunkt in den 1920er-Jahren, die sich über mehrere Generationen erstreckt. Aber dann hat mich das Buch gleich gepackt und gefesselt. Es ist in großen Teilen die Geschichte der Autorin selbst, wie sie in ihrem Nachwort erläutert. Das reisefreudige Ehepaar Fux lässt seine beiden Jungen in der Obhut des Onkels, als sie erneut in ferne Länder aufbrechen. Dieser, ein Kinderarzt und überzeugter Nazi, drillt die beiden, lässt sie mit dem Holzgewehr exerzieren und prügelt ihnen ihre vermeintliche Schwäche aus dem Leib. Der jüngere und zartbesaitete Bruder Gerd übersteht den Krieg nicht, der ältere, Paul, kehrt zurück und gründet eine Familie. Seine Tochter Ina geht nach dem Abitur nach Israel und wird dort schwanger von einem jüdischen Mann, dessen Familie kein Kind einer Deutschen haben will. So muss Ina zurück nach Deutschland und kann ihrer kleinen, wilden Tochter Floriane keinen Vater bieten. Sie haben wenig Geld, Ina keinen Beruf und auch kaum Unterstützung durch die Eltern. Bis die fast hundertjährige englische Großmutter sich einschaltet und der Urenkelin doch noch die heiß ersehnten Ballettstunden ermöglicht. Floriane schließt sich als Jugendliche der Antifa an und wird selber in jungen Jahren schwanger. Erst mit ihrer eigenen Tochter Sammy und einer Reise zusammen mit ihrem Großvater Paul zur Grabstelle des toten Soldaten Gerd schließt sich am Ende der Kreis.

Ein tolles Buch für alle, die Perspektivenwechsel und Zeitsprünge nicht scheuen und gerne authentische Geschichten lesen, die die deutsche Vergangenheit und ihre familiären Verstrickungen beleuchten.